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IN SACHSEN-ANHALT

SELBSTORGANISIERTES LERNEN AN DER GEMEINSCHAFTSSCHULE HEINRICH HEINE

Im Gespräch mit Lehrer Christoph Kayser

Seit 2019 gibt es an der Gemeinschaftsschule Heinrich Heine in Halle (Saale) das Format des selbstorganisierten Lernens. Lehrer Christoph Kayser gibt mit dem Interview einen praxisnahen Einblick in die schuleigene Umsetzung.

 

Herr Kayser, 2019 hat Ihre Schule begonnen, selbstorganisiertes Lernen als Unterrichtsform aufzunehmen. Sie haben mit Klassenstufe 6 begonnen – wie kam es dazu?

Die Schule war ursprünglich eine Sekundarschule und die Klasse 6 im Jahr 2019 war der erste Gemeinschaftsschuljahrgang. Dieser Umbruch veranlasste uns dazu, ebenfalls den Unterricht moderner zu gestalten. Unsere Umsetzung des selbstorganisierten Lernens findet als Projektlernen jeden Freitag für vier Stunden statt. Dabei nutzen wir für dieses neue Fach einerseits Klassenleiterstunden, andererseits geben einige Lehrkräfte Stunden aus ihren Fächern mit in den SOL-Topf. Durch die Corona-Pandemie mussten wir den SOL-Unterricht jetzt aber aussetzen, gehen aber fest von aus, dass wir im neuen Schuljahr wieder damit starten können, mit den neuen sechsten und den dann achten Klassen.

Sind bei Ihnen alle Lehrkräfte in das Fach involviert?

Noch jein. Aber Ziel ist es auf jeden Fall. Wir sind derzeit fünfzügig mit circa 125 Schüler:innen pro Jahrgangsstufe und haben 2019 damit begonnen, dass die fünf Klassenlehrer:innen der sechsten Klassen und zwei pädagogischen Mitarbeiter:innen fest für das Projektlernen am Freitag eingeplant wurden. Dementsprechend standen uns die jeweiligen Klassenräume immer zur Verfügung. Zusätzlich haben wir unsere Lernwerkstatt, unser grünes Klassenzimmer oder die Sporthalle nutzen können. Aber unsere Kolleg:innen haben in ihren unterschiedlichen Fachschaften auch viele inhaltliche Zuarbeiten für die jeweiligen Themenkomplexe geleistet.

Sind die Themen, die bearbeitet wurden von Beginn an vollkommen frei gewählt worden?

In Klasse 6 haben wir uns dazu entschlossen, die Themen noch vorzugeben und Schritt für Schritt in die eigenständige Bearbeitung von Aufgaben mit dem Herantasten an verschiedene Lernprodukte einzuführen. Dabei hatten wir drei große Themenschwerpunkte geplant und die Pilotphase genutzt, um zu schauen, wieviel Zeit die Schüler:innen benötigen. So haben wir das dritte geplante Thema „Mediennutzung“ nicht mehr bearbeitet, werden es aber in die nächste Klassenstufe mitnehmen. Unser Ziel ist es, dass sich die Schüler:innen der neunten und zehnten Klassen ihre Themen dann vollkommen eigenständig wählen, Mentoren haben und regelmäßig mit diesen den Bearbeitungsstand besprechen, also wirklich frei arbeiten. In Klasse 6 brauchen sie aber noch Lenkung und Struktur, um das eigenständige Lernen selbst erst einmal zu lernen.

Und welche beiden Themen wurden in der Klassenstufe 6 dann behandelt?

Das erste Thema war „Meine Stimme hat Gewicht“, da die Partizipation der Schüler:innen für uns als Gemeinschaftsschule einen Grundpfeiler darstellt und so früh wie möglich gefördert und bestärkt werden soll. Das zweite Thema war dann „Mein Körper, ich und die Anderen“. Dieses beinhaltet aus verschiedenen Fächern Inhalte, die wir in diesem Alter als immer wieder besonders interessant für die Kinder feststellen: In Ethik ist das z.B. das Thema Freundschaft. In Biologie ist es die Pubertät einhergehend mit körperlichen Veränderungen und dem Thema Körperhygiene, sowie dem entstehenden Interesse am anderen Geschlecht.

Was haben Sie beispielsweise beim Thema „Meine Stimme hat Gewicht“ inhaltlich sowie methodisch gemacht?

Zunächst hat die Geschichtsfachschaft für dieses Thema zugearbeitet, sodass wir uns mittels einer Lerntheke z.B. damit beschäftigt haben, was Demokratie überhaupt ist und wie sie entstand. Einige Schüler:innen durften hierbei eigenständig in die Stadtbilbiothek gehen und haben dort recherchiert. Das waren Schüler:innen, denen wir das als Kollegium bereits zutrauten. Die anderen durften an Computerarbeitsplätzen in der Schule zum Thema weitere Informationen sammeln. Die Ergebnisse wurden dann den anderen vorgestellt. Das hat super funktioniert. Ein weiterer Baustein war darauffolgend die Grundlagenschaffung für die Möglichkeit der Mitgestaltung der Schule. Da haben die Schüler:innen gelernt, wie Briefe geschrieben werden und am Ende einen an die Schulleitung geschrieben, in welchem sie inhaltlich ganz individuell beschrieben haben, was ihnen an der Schule gefällt, was gut funktioniert, aber auch, was ihnen noch fehlt bzw., was sie sich noch wünschen würden. Das hat in unseren Augen ganz viel dazu beigetragen, dass sich unsere Schüler:innen nun stärker mit der Schule identifizieren.

An einem anderen Freitag haben wir z.B. Fragen an die Schülervertretung erarbeitet und anschließend ein Interview mit dieser durchgeführt. Darin enthalten waren Fragen wie: Was ist die Schülervertretung? Was macht ihr? Wer ist in der Schüler- vertretung? Des Weiteren haben wir eine Umfrage zum Thema „Handy/Handynutzung“ mit den Schüler:innen entworfen, durchgeführt und im Nachgang die Ergebnisse besprochen. Daran besonders war, dass sie tatsächlich diese Umfrage in den 8ten Klassen und nicht unter sich durchgeführt haben. Das hat die Jüngeren sehr stolz gemacht, als sie da in die Klassen zu den „Großen“ gegangen sind.

Gab es bei dem Themenkomplex ein bestimmtes Highlight für Sie?

Das besondere an unserem SOL-Konzept ist für mich, dass wir für jedes Thema auf ein Highlight für die Klassen hinarbeiten möchten. Beim ersten Thema war das im Jahr 2019, als die Kinderrechte ihren 30. Geburtstag feierten und es daher in Halle auf dem Marktplatz eine große Wimpelkettenaktion gab. >>>

Wir haben eigene Wimpelketten gestaltet und bildeten dann eine lange Menschen kette vor Ort. An diesem Tag arbeiteten wir zudem mit Kooperationspartnern zusammen: So hatten einige Schüler:innen die Möglichkeit, von Radio Corax zu Minijournalist:innen ausgebildet zu werden und konnten vor Ort mit Teilnehmenden des Fests kleine Interviews durchführen. Andere waren z.B. eine Art „Securityhelfer“ und haben darauf geachtet, dass kein Müll auf die Straßen geworfen wurde. All diese Themenaspekte und das ganze Drumherum des Gesamtthemas wurden in einem begleitenden Logbuch festgehalten, sodass den Schüler:innen deutlich wurde, was sie alles gelernt haben und auch für später immer wieder in diesem darin nachschlagen können.

Und beim zweiten Thema „Mein Körper, ich und die Anderen“?

Das große Highlight war am Ende eine Exkursion nach Dresden ins Hygienemuseum. Aber schon während der thematischen Erarbeitung gab es für mich kleinere Punkte, die ich als besonders großartig empfand. Das war zum einen die Kooperation mit ProFamilia. Der Verein kam vertreten durch 2 Mitarbeitende in die Schule und hat einmal intimere Momente in Jungs- und Mädchengruppen ohne dem Beisein von Lehrkräften schaffen können, in denen Fragen gestellt werden konnten, die unsere Schüler:innen sonst wahrscheinlich nie stellen würden. Zum anderen gab es einen Tag zum Thema Fitness und Ernährung. Da konnte jeder z.B. einen Fitnesstest absolvieren und die Ernährungspyramide kennenlernen. Für mich als Sportlehrer ein ganz wichtiger Punkt, weil in dem Alter noch leichter Veränderungen im Verhalten möglich sind, z.B. wenn jemand künftig mit Fahrrad zur Schule kommt, anstatt mit Straßenbahn zu fahren. Es war toll zu sehen, dass sich erste Schüler:innen dann schon trauten, eigene Vorschläge für Lernprodukte einzubringen.

Wie schätzen Sie die gemachten Erfahrungen der Schüler:innen, aber auch der Lehrerkräfte in diesem ersten Jahrgang mit SOL ein?

Die fünften Klassen zu nutzen, seine Schüler:innen kennenzulernen und dann in Klasse 6 auf die Lernenden angepasst mit SOL zu beginnen, finde ich zunehmend immer besser. Natürlich gibt es in der Klassenstufe 6 noch relativ viel Input und Unterstützung von uns, da die Schüler:innen erst einmal lernen müssen, selbstständig Themen zu bearbeiten und sie neue Methoden kennenlernen und ausprobieren sollen. Da müssen alle an ihrer Frustrationstoleranz arbeiten und eventuell einmal scheitern bzw. die Lehrkräfte lernen, Schüler:innen scheitern zu lassen, dafür Feedback zu geben und das als wichtigen Lernprozess zu verstehen. Aber es hat sich bisher gezeigt, dass die Schüler:innen durch SOL viel Selbstwirksamkeit mitbekommen und so motiviert werden, immer mehr Themen eigenständig anzugehen und eigene Ideen dazu umsetzen zu wollen. Die größte Herausforderung ist tatsächlich, bei allen Lehrkräften eine Offenheit hinzubekommen, das Prinzip von SOL selbst auszuprobieren, anstatt nur Zweifel zu hegen und es daher sofort für den Unterricht abzulehnen.

Haben Sie schon konkrete Pläne, wie Sie an diese Herausforderung herangehen wollen?

Wir wollen allen Lehrenden die Möglichkeit geben, unterschiedlichste Lernprodukte in Mikro-Fortbildungen kennenzulernen. Zudem wollen wir ab sofort Hospitationen im SOL-Unterricht anbieten. Ein weiteres Vorhaben ist es, in einer unserer Dienstberatungen, die Schüler:innen selbst einmal ihre Produkte aus dem SOL-Unterricht vorstellen zu lassen. Für mich ist das ganz wichtig, denn an meiner alten Schule habe ich bereits einen ganzen SOL-Prozess mitgemacht und da habe ich gesehen, was in den neunten oder zehnten Klassen dadurch an eigenen Produkten von Schüler:innen entstehen konnte. Hätte man nicht schon in den 5. oder 6. Klassen mit SOL angefangen, wäre das nicht möglich gewesen. Aber diese Erfahrung kann man den Kolleg:innen nicht schenken. Sie müssen das selbst erfahren. Und das heißt auch: Dranbleiben, Widerstände überstehen und Momente hervorrufen, um das SOL zu stärken.

Wie soll es im nächsten Schuljahr an der Schule mit SOL wieder losgehen?

Zunächst hoffen wir, dass alle Kinder und Jugendlichen wieder täglich in die Schule gehen können. Da sind wir durch Corona wirklich geerdet worden und gehen lieber einen kleinen ersten Schritt vor dem zweiten und dritten. Intern wollen wir noch die Notengebung für SOL klären, da das bisher noch unterschiedlich gehandhabt wird. Fest steht aber auf jeden Fall das große Ziel, SOL weiter an der Schule zu etablieren und nun weiter aufwachsen zu lassen.

Danke für diesen praxisnahen Einblick und viel Erfolg bei der weiteren Umsetzung!